Mein Leben in den “Alsterdorfer Anstalten” im Wandel der Nachkriegszeit

Klaus M. im August 2015

Interviewter: Klaus M. (geb. 1940 in Hamburg)
Interviewer: Leon Ganter (16) und Lovis Wöhner (15)

Ich lebe in den Alsterdorfer Anstalten seit Ende der 40er Jahre. Meine Mutter Erna M. hat mich und meinen Zwillingsbruder Aren nach Alsterdorf gebracht, als der Krieg gerade zu Ende war. Sie war Krankenschwester und hat uns zum Fichtenheim gebracht.

Es war das Haus neben dem heutigen Gebäude der Öffentlichkeitsarbeit. Von Fichtenheim sind wir ins Haus Heinrichshohe gekommen. Das ist da, wo heute die neuen Apartmenthäuser stehen. Ich habe in einer Abteilung mit 100 Leuten gewohnt. Das Haus hatte vier Schlafsäle für je 25 Bewohner und zwei große Essenräume. Es war eine strenge Zeit, um 20 Uhr war „Bettzeit“. Das Gelände war geschlossen und es gab eine Pforte mit einem Pförtner, der nur für Lieferwagen oder Krankenwagen öffnete. Man konnte nicht einfach auf das Gelände oder herunter. Es war mit Stacheldraht eingezäunt und es gab eine Besuchszeit. Das Gelände verlassen durfte man nur mit einem Ausgangsschein. Den bekam man für den Nachmittag beim Pfleger. Den Schein musste man beim Pförtner abgeben und bis 20 Uhr wieder zurück sein. Wenn man später kam, gab es Ausgangssperre, d.h. man hatte keinen Ausgang für das Wochenende.
Ich ging auf die Alsterdorfer Schule. Das war eine Holzbaracke, an der Stelle, wo heute die Bugenhagenschule steht. Schule hatten wir von 8 bis 16 Uhr, eine 10-Minuten-Pause und eine Mittagspause von 12 bis 13 Uhr. Wir wurden „Pfleglinge“ genannt und es waren nur Kinder aus dem Bereich der Anstalten dort, keine von außerhalb. In der Mittagspause musste man in seine Abteilung gehen. Es gab keine Kugelschreiber und kein Papier, sondern jeder hatte eine kleine Tafel mit Kreide, die er an seinem Platz lassen musste. Jungen und Mädchen waren im Klassenraum durch einen Mittelgang getrennt. Wenn man kurz zur Seite geschaut hat, wurde man gleich angesprochen: „Du hast nach vorn zu gucken!“. Bei Pausenschluss hat die Schulleiterin im grauen Kittel die Glocke von Hand geläutet. Auch auf dem Schulhof waren Jungen und Mädchen getrennt, zwischen zwei Bäumen war ein Band gespannt, auf der einen Seite waren die Jungen, auf der anderen die Mädchen. Wir durften nicht über die Line und auch nicht miteinander sprechen. Einmal habe ich mich mit einem Mädchen unterhalten und ein Lehrer hat mich dann zu sich geholt. Ich habe gezittert, denn wenn man nicht gespurt hat, wurde man geschlagen.
In dem Jahr, in dem ich konfirmiert wurde, bin ich auch aus der Schule gekommen. Übrigens waren in den Konfirmandenstunden Jungen und Mädchen auch getrennt – das hat man erst in den 7oern oder 80ern gemischt. Wir wurden für die Konfirmation eingekleidet: Jungen bekamen ein Sporthemd, Socken, Hose und eine Anstecklilie, die Mädchen bekamen ein schickes weißes Kleid. Nach der Schule wollte ich dann Gärtner werden, etwas mit Blumen zu tun haben und habe bis zu meiner Rente in einer Blumengärtnerei hinter der Sengelmannstraße gearbeitet. Mein Zwillingsbruder ist 1961 aus der Anstalt entlassen worden. Er hat die Ausbildung mit mir zusammen gemacht. Mein Bruder war gut in der Schule, ich war nur gut im Rechnen. Mein Bruder lebt in einer eigenen Wohnung, ich wohne hier in der Stiftung. Von unserer Mutter haben wir ein Bild, der Vater ist im 2. Weltkrieg gestorben.

In den 70er Jahren hat sich hier viel verändert, davor war alles sehr streng.

Es gab einmal die Woche, donnerstags, Leibwäsche, ein Sporthemd, ein Paar Socken, einmal Unterwäsche und eine Hose – das musste für die Woche reichen. Wir hatten auch ein Waschhaus, das sah aus wie ein Öltank dort, wo jetzt am Alsterdorfer Markt „Rossmann“ ist. Die schmutzige Wäsche konnte man oben einwerfen, unten waren zwei dicke Rohre und ein Sieb, wo das Wasser ablaufen konnte. Gewaschen wurde mit billigem Waschpulver, Trennung von bunter und weißer Wäsche gab es nicht und nur einmal in vier Wochen Bettwäsche. Erst mit den Wohngruppen, 1975, wurde der Umgang mit den Bewohnern anders. Das Tor wurde geöffnet, der Zaun wurde ende der 80er Jahre entfernt. 2003 wurde der Alsterdorfer Markt eröffnet, vorher gab es nur einen kleinen Kramladen, der von 10 bis 12 Uhr geöffnet hatte. Da konnte man Kleinigkeiten kaufen. Auf dem Platz vom Alsterdorfer Markt war früher der Fußballplatz, ein Ascheplatz mit einem kleinen Schuppen zum Umziehen, später bekam der Platz noch ein Flutlicht.
Dann wurden auch die Werkstätten gebaut, damit man eine sinnvolle Beschäftigung hat.
Ich bin jetzt Mitarbeiter in der Öffentlichkeitsarbeit seit 1973, weil ich hier so viel erlebt habe. Zum Beispiel das hier (Herr Matzke zeigt auf ein Bild in einem Buch), das ist ein sogenannter Steckschlüssel nicht für Türen, sondern für die Fesseln, die man bis in die 70er Jahre bei „Pfleglingen“ mit starken Spastiken verwendet hat.