Interviewte: Johanna K. (geb. 1936 in Thüringen)
Interviewer und Autoren: Lovis Wöhner (15) und Timo Haubold (14)
Eingeschult wurde ich in der Nähe von Coburg, in Schalkau (Thüringen). Das war damals so: Am Montag mussten alle Schüler antreten, dann wurde die Fahne gezogen. Das war ja noch in der Hitlerzeit. Wir mussten ein Lied singen, bevor wir in den Klassenraum konnten. Im Klassenraum in meiner 1. Klasse gab 4er Bänke – auf der einen Seite saßen die Mädchen, auf der anderen Seite die Jungen. Die erste der beiden Reihen war immer frei. Wer im Unterricht nicht mitmachte oder störte, wurde strafversetzt. Die Jungs auf die erste Bank der Mädchenseite, die Mädchen auf die erste Bank der Jungenseite. Das war streng. Jeden Morgen mussten wir alle aufstehen, die Hände vorzeigen, ob die sauber waren, auch die Fingernägel wurden angeguckt. Jeder musste zeigen, ob er ein Taschentuch dabei hatte. Es gab ja noch keine Tempos, sondern Stofftaschentücher. Wenn jemand schwatzte, musste er nach vorne kommen. Die Lehrerin nahm dann ein Lineal und klopfte auf die Finger und zwar nicht zu knapp. Wer besonders frech war, meistens die Jungen, wurde zu einem anderen Lehrer geschickt, der sie dann verprügelt hat. Mehrere Schläge mit dem Stock. So war das wirklich, so haben wir das erlebt.
Nach dem Krieg wurde meine Heimat dann zuerst Amerikanischer Sektor, dann Russischer Sektor.
Als ich fünfzehn Jahre alt war, sind wir von Thüringen nach Hamburg gekommen. Über die Grenze sind meine Mutter und meine beiden Schwestern, die kleiner als ich waren, auf dem Interzonen-Pass nach Hamburg gefahren. Mein Vater und ich sind dann nachts über die Berge in den Westen gegangen, nach Coburg in Bayern, Ober-Franken. Eine komplette Familie hätte niemals einen Interzonen-Pass bekommen, weil es dann eine Republikflucht gewesen wäre.
Dort wurde verlangt, dass man Mitglied in der Jugendorganisation „Junge Pioniere“ wird, wenn man auf die Oberschule wollte. Ich musste es auch, sonst hätte ich kein Abitur machen können. Nach den 8 Jahren Grundschule, bin ich nur noch ein Jahr in die Oberschule gegangen, denn dann sind wir nach Hamburg.
Bis wir eine eigene Wohnung bekamen habe ich bei einem Freund gewohnt, meine Schwester bei einem anderen Freund und meine kleine Schwester mit meinen Eltern in einem Zimmer zur Untermiete. Es war ganz schwierig eine Wohnung zu bekommen.
Wir sind sechs Tage die Woche zur Schule gegangen, auch samstags. Wir hatten fast so wie heute Frühjahrs-, Sommer- und Herbstferien, aber wir haben keinen Urlaub gemacht, weil das Geld knapp war. Mein Vater kam aus der Internierung und es war auch gar nicht üblich in den Urlaub zu fahren. Das gab es damals einfach nicht. Mein Vater war nicht im Krieg, aber er hatte in Afrika gearbeitet und wurde von den Engländern in Kanada interniert. Nach Kriegsende kam er zurück. Dann wurde er verpflichtet, in einem Holzwerk zu arbeiten, obwohl er Kaufmann gewesen ist. Im Holzwerk bekam er nicht viel Geld, so gab es auch keines für Urlaub. Trotzdem haben wir es nicht schlecht gehabt in der kleinen Stadt Schalkau, 3000 Einwohner. Aber es war Not, man hatte nichts. So haben wir Kartoffeln gehackt. Wenn ein Feld abgeerntet war, durfte man es durchgraben, um noch Kartoffeln zu finden und in den thüringischen Wäldern rund um den Ort haben wir oft nach Pilzen gesucht. In Thüringen wurden wir von den schweren Bombenangriffen, wie sie über Hamburg waren, verschont. Das Elternhaus meiner Mutter wurde hier in Hamburg als Wohnraum beschlagnahmt, weil ja Wohnungsnot herrschte. In dem Haus wohnten vier bis fünf verschiedene Parteien. Das waren meistens Familien, die jeweils ein Zimmer bewohnten. Hamburg war völlig ausgebucht, weil viele Häuser ausgebombt waren – auf der Strecke zwischen Hauptbahnhof und Hasselbrook beispielsweise war alles weg, war platt, nur noch Erde! Das musste alles wieder aufgebaut werden.
Die Kinder hatten früher nichts zu sagen, es wurde gesagt: „Du machst das“ und dann machte man das. Das war auch die Gefahr. Es gab wenig selbstbewusste Menschen und dadurch konnte unter anderem auch Adolf Hitler so viel Macht bekommen, weil die Menschen gewohnt waren, das zu tun, was man ihnen sagte. Heute haben die Kinder mehr Freiheiten. Die Eltern lassen sich darauf ein und fragen, was die Kinder möchten. Das ist bestimmt auch nicht immer gut, denn man muss auch lernen, nicht seinen Willen durchzusetzen. Wenn man als Kind nicht lernt, dass man sich auch fügen muss, dann hat man es schwer, wenn man berufstätig ist und der Chef etwas verlangt.
Außerdem hatten wir nicht so viel Unterhaltung und so viele Medien wie heutige Kinder: Ein Telefon z.B. hatten bei uns in Schalkau vielleicht 4 oder 5 Einwohner, Radios gab es auch nicht. Unter Adolf Hitler wurde der sogenannte Volksempfänger populär, wer konnte kaufte sich so ein Ding. Darüber wurden natürlich Nazi-Botschaften vermittelt. Damals gab es keine Art von Fastfood. Thüringen ist bekannt als Bratwurstland und wenn man von einem Fleischer welche kriegen konnte, dann war das, was man heute Fastfood nennt. Einmal im Jahr gab es eine Kirmes mit einem Karussell.