Erste beschwerliche Schritte nach dem II. Weltkrieg

Interviewte: Großmutter. (geb. 1940 in Hamburg)
Interviewerin und Autorin: Anna Maischberger (15)

Wie war die Zeit kurz nach dem 2. Weltkrieg?
Ich bin 1942 in Hamburg geboren. Als der Krieg zu Ende war, war ich fast drei Jahre alt. Ich habe eine Schwester. Meine Kindheit war bescheiden. Wir hatten nicht viel, aber ich war trotzdem nicht unglücklich. Wir mussten nicht fliehen, sind nur des Öfteren umgezogen. Zum Beispiel habe ich als Kind auch in Kiel gewohnt. Dann sind wir wieder nach Hamburg gekommen. Als der Krieg beendet war, hatten wir keine Wohnung und wir mussten zu meiner Oma ziehen. Meine Eltern wurden zweimal in Hamburg ausgebombt, als ich dann drei oder vier war, wurden wir evakuiert, dass heißt, dass wir auf einem Bauernhof in der Nähe von Neustadt gewohnt haben. Neustadt ist ungefähr 120 km von Hamburg entfernt.

Wie habt ihr gelebt?
1950 haben wir 3 bei meiner Oma gelebt, aber mein Vater hat in Hamburg gearbeitet. Meinen Vater haben wir daher nur selten gesehen. Dann sind wir zu einer Bekannten von uns in die Deichstraße gezogen. Sie hatte selber vier Kinder. In ihrer Wohnung hatte sie ein Zimmer für uns frei, was wir mieten konnten. Das war ein Zimmer ohne Fenster, weil drum herum Häuser standen. Wir mussten Tag und Nacht das Licht eingeschaltet lassen, wenn wir etwas sehen wollten. In dem Raum hatten wir nur zwei kleine Betten, einen Kleiderschrank, einen Tisch und vier Stühle. Ich musste jahrelang mit meiner Schwester zusammen in einem der kleinen Betten schlafen. Einmal pro Woche wurde eine Zinkwanne mit heißem Wasser befüllt und wir wurden zu sechst gewaschen, die Kinder unser Bekannten, meine Schwester und ich. Um die Toilette zu erreichen, musste man aus der Haustür hinaus und ein Stockwerk tiefer gehen. Diese stand mitten im Treppenhaus. Wir benutzten sie zusammen mit zwei Familien. Als wir unsere erste eigene Wohnung bekamen, war ich zwölf Jahre alt, das war 1954. In der Wohnung hatten wir auch die erste Badewanne und eine Ofenheizung. Dann mussten wir immer Kohlen und Briketts bestellen. Die Briketts wurden in den Keller gebracht, unser Vater forderte uns dann auf, diese im Keller zu stapeln. Unten im Keller hatten wir noch einen Waschkeller mit einem Bollerofen. Den musste meine Mutter heiß machen um dann die Schmutzwäsche darin zu kochen. Sie brauchte den ganzen Tag dafür. Als Kind musste ich das nie machen. Irgendwann hatten wir auch eine Waschmaschine, aber das hat gedauert. In der Küche hatten wir einen Ofen und einen Sessel, immer wenn meine Mutter weg war, habe ich mich mit meiner Schwester gestritten, wer darin sitzen darf.

Wie war deine Kindheit, hast du dich oft mit Freunden getroffen?
Als Kind hatte ich kein Spielzeug, deshalb habe ich mich mit meinen Freunden auf der Straße zum Spielen getroffen. Unsere Verabredungen machten wir persönlich aus. Ich habe fast den ganzen Tag draußen gespielt, wir waren immer eine große Gruppe von Kindern, auch die Jüngeren haben zusammen mit uns gespielt. Ich hatte viel Zeit für das Spielen, weil, so weit ich weiß, meine Mutter nicht mithelfen musste, Hamburg wiederaufzubauen. Sie musste nicht mithelfen, weil sie die Kinder versorgen musste. Außerdem wurden wir zu der Zeit evakuiert.

Wie war deine Schulzeit?
Ich ging fünf Tage die Woche in eine Grundschule, früher wurde sie „Hauptschule“ (Volksschule) genannt. Ich bin zusammen mit meiner Schwester zu Fuß zur Schule gegangen. Das dauerte ungefähr 15 Minuten, aber als Kind empfindet man das ja länger. In der Schulzeit hatte ich kein Fahrrad, die anderen Kinder auch nicht. In den Pausen spielten wir „Kriegen und Haschen“ oder so. In der Schule habe ich mitbekommen, dass einige Lehrer die Schüler schlugen, aber bei uns in der Klasse war das nicht üblich. Die Ferienzeiten waren fast wie heute. Ich bin sogar der Meinung, dass wir so lange Sommerferien hatten wie heute. Hatte man damals schon die Möglichkeit Urlaub in anderen Ländern zu machen?
Man hatte schon damals die Möglichkeit in andere Länder zu reisen, aber unsere Familie hatte nicht genug Geld, um sich Urlaub in einem anderen Land zu leisten.

Wie war der Umgang mit den Eltern?
Früher waren die Umgangsformen mit den Eltern anders als heute; wir hatten Respekt vor ihnen, aber auch Angst, weil sie so streng waren. Ich weiß von vielen Leuten, dass ihre Eltern zu der Zeit streng waren. Wenn ich damals eine Kleinigkeit ausgefressen hatte, habe ich eine Woche Stubenarrest bekommen, zu der Zeit gab es kein Fernsehen, kein Telefon, kein Handy. Ich habe mich dann in die Bücherhalle gesetzt und gelesen. Als Schulkind habe ich sehr viel gelesen.

Wer war bei euch in der Familie Hauptverdiener?
Mein Vater war Soldat, er war ein paar Jahre im Krieg. Am Ende wurde er zusammen mit anderen Soldaten in Frankreich in Gefangenschaft genommen. Ich kann mich erst an meinen Vater erinnern, als er aus der Kriegsgefangenschaft kam. Da war ich wohl schon sieben, acht Jahre alt, das war 1946 oder 1947. Er war der Hauptverdiener in unserer Familie. Er wurde aus der Gefangenschaft in Frankreich entlassen, weil er Probleme mit seinem Magen hatte. Unser Vater erzählte uns, dass die Franzosen ihn freiließen, weil sie glaubten, er würde bald sterben. Von Frankreich bis Deutschland ist er gegangen, hat bei einigen Leuten übernachtet. Als er bei uns ankam, hat meine Mutter ihn nicht erkannt, weil er so abgemagert war. Sie hat sich sehr erschrocken, als mein Vater sie angesprochen hat. Dann hat sie ihm erst einmal etwas zu Essen gemacht. Es ging ihm gar nicht gut. Er musste tagelang erbrechen, weil sein Magen das alles nicht vertragen hat. Dann hat ein Freund oder ein Kollege ihm ein Tipp gegeben, was er zu sich nehmen soll; als er das genommen hatte, ging es ihm wieder besser.

Was hat dir damals besser gefallen als heute. Was gefällt dir heute besser als damals?
Früher hat mir der Zusammenhalt besser gefallen, weil man, wenn man etwas hatte, geteilt hat. Das ist heute nicht mehr ganz so. Mir gefällt heute besser, dass alles leichter geworden ist. Eigentlich fand ich, als ich dann so sechzehn war, besser, dass wir alle zusammen gefeiert haben, auch mit den Geschwistern meiner Mutter. Das wurde schlechter, als die Menschen anfingen Geld zu verdienen, weil beispielsweise der eine Onkel sein Geld für ein neues Auto brauchte und es sich nicht mehr erlauben konnte zu feiern. Das war eben schade, dass das auseinander gegangen ist.

Was war damals anders als heute?
Es war noch anders, dass man damals nur zwei Hosen hatte und nur ein Paar Schuhe. Mein Vater hat immer geschimpft, wenn meine Schuhe kaputt waren. Und zum Beispiel haben die Menschen die Spitze vorne aufgeschnitten, wenn die Schuhe zu klein waren, damit man mit den Schuhen noch laufen konnte. Vorne haben dann die Zehen raus geguckt. Mein Vater hat die Schuhe immer selber besohlt, er hatte dafür ein spezielles Eisen.

Was hast du damals für Musik gehört, gab es damals schon Diskotheken?
Früher haben wir deutsche Lieder gehört, Schlagermusik. Meine Eltern haben sich oft einen russischen Chor angehört. Als ich siebzehn war, fing das an mit Elvis Presley. Die Beatles kamen erst 1962, die habe ich persönlich im Hamburger-Starclub gesehen, als sie noch nicht so bekannt waren. Wir haben eigentlich immer Rock ´n Roll gehört. Als ich zwanzig Jahre alt war, gab es in fast jeder Diskothek Live-Musik. Ich war oft in Diskotheken, wenn ich mir den Eintritt leisten konnte. Manchmal hatte man das Geld einfach nicht. Wenn man das Geld für den Eintritt besaß, hatte man häufig nur noch Geld für eine kleine Cola für den gesamten Abend. Wir sind immer mit mehreren Personen in die Diskothek gegangen.

Gab es früher schon eine Art Fast Food oder Schnellrestaurante?
Es gab damals kein Fast Food, das konnten sich die Menschen vom Geld her gar nicht erlauben. So etwas kannte man überhaupt nicht. In der Nähe meines Elternhauses gab es einen Wochenmarkt, dort konnte man mal eine heiße Wurst mit einer Weißbrotecke essen, aber Fast Food gab es nicht. Essen gehen war nicht drin, zumindest bei uns nicht. In den 60er Jahren fing es langsam mit Restaurants und Fast Food an.

Was waren damals deine größten Wünsche?
Mein Vater ist 1952 krank geworden und konnte nicht mehr arbeiten, dann hat meine Mutter gearbeitet. Sie ist morgens um 4:00 Uhr aufgestanden und hat dann die Finanzbehörde geputzt, weil sie sonst nirgendwo Arbeit gefunden hatte. Eigentlich hatte ich keine Wünsche. Ich war zufrieden, habe nie gehungert. Dass ich große Wünsche hatte, kann ich nicht sagen.

Was war dein erstes eigenes elektronisches Gerät?
Hab ich nie besessen. Was soll ich denn gehabt haben? Einen Fernseher hatten wir erst, als ich neunzehn Jahre alt war und Mobiltelefone waren Zukunftsmusik. Telefone gab es schon irgendwann, aber wir hatten auch nur ein Telefon und nur einen Fernseher.

Wo hat man die Geräte gekauft?
In einem Elektrofachgeschäft haben wir unsere Geräte gekauft. Früher gab es noch keinen Kredit, die Menschen haben die Geräte auf Abzahlung gekauft, das heißt, sie haben jeden Monat das Gerät abbezahlt. Aber so ein Kredit wie heute, dass man sich das Geld auf einmal holt, gab es nicht.

Welches war dein erstes Auto?
Wir hatten kein Auto, das erste Auto hatte ich vor ungefähr vierzig Jahren. Ein Opel war das, glaube ich. Mein Vater hatte kein Auto. Meinen Führerschein habe ich gemacht, als ich schon über dreißig Jahre alt war.

Was vermisst du von früher?
Ich denke, dass der Zusammenhalt früher besser war als heute. Heute denken die Menschen nur an das, was sie noch erledigen müssen. Sagen wir mal so, die Menschen haben heute wenig oder auch gar keine Zeit.

Hast du die Sturmflut miterlebt?
Ja, die habe ich miterlebt. Im Februar 1962 war das. Wir wohnten zur der Zeit in Barmbek und in der Nacht war ich noch mit Freunden auf einer Party. Dann haben wir nur mitbekommen, dass es windig war und es Stromausfälle in Hamburg gegeben hatte. Erst am nächsten Tag haben wir erfahren, dass wir eine Sturmflut hatten und dass viele Menschen ertrunken sind oder Wasser in ihren Häusern stand. Ich habe es erst später mitbekommen, weil es dort, wo wir wohnten, etwas höher lag, sodass das Wasser nicht zu uns kommen konnte.